In einer Replik auf Hegel, der behauptet hatte, „dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen“, bemerkte Karl Marx trocken: „Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Zum Beweis führte Marx — neben anderen — Martin Luther an, der sich als Apostel Paulus maskiert hätte. Ob Hugo Bettauer Marxens geschichtsphilosophischen Satz kannte, ist nicht überliefert. Wenn ja, dann hat er ihn in sein Gegenteil verkehrt, indem er einen Roman schrieb, der als Farce die Tragödie des nationalsozialistischen Völkermordes vorwegnahm. „Die Stadt ohne Juden“ heißt Bettauers 1922 erschienenes Büchlein, das auf 194 Seiten am Beispiel der Stadt Wien die administrativ betriebene Vertreibung der Juden aus Österreich beschreibt.

Nach dem Ende des Kaiserreichs ist der in Österreich latent vorhandene Antisemitismus offen aggressiv geworden und rechte Politiker nutzen diese Stimmungen für ihre völkische Propaganda. Prototypisch lässt Hugo Bettauer den fiktiven Bundeskanzler Dr. Karl Schwertfeger die kleinbürgerlich-devote Haltung vieler angstbewehrter Menschen zum Ausdruck bringen: „Die Sache ist einfach die, dass wir österreichischen Arier den Juden nicht gewachsen sin, dass wir von einer kleinen Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben diese Minderheit Eigenschaften besitzt, die uns fehlen!“

Der literarische Dr Schwertfeger hatte ein reales Vorbild: den in Wien von vielen immer noch verehrten Oberbürgermeister Karl Lueger, einen ausgewiesenen Antisemiten, den sich Adolf Hitler als „größten deutschen Bürgermeister“ zum Vorbild nahm. Mit seiner Behauptung, Wien sei das „Groß-Jerusalem“ hatte Lueger Anfang des 20. Jahrhunderts die Blaupause für jene Stimmungen geliefert, die Hugo Bettauer in seinem Roman „Die Stadt ohne Juden“ aufnimmt und satirisch entlarvt. Das populistische Grundmotiv der Geschichte ist heute so aktuell wie vor 95 Jahren: Uns geht es schlecht. Der Jude ist schuld. Also fliegt er raus.

Die Folgen überspitzt Hugo Bettauer ins Groteske: Wien verarmt, bildlich wie materiell. Die Presse wird eintönig, die Theater langweilig, die Musik stampfend und — das Schlimmste von allem — die Kaffeehäuser sterben aus. Ein Drama: Wien ohne Kaffeehaus-Kultur, ohne Nörgler, Schnorrer, Kritikaster. Die Weltstadt Wien verwandelt sich in das größte Provinzkaff Europas. Bettauer versinnbildlicht dies mit einem Seitenhieb auf die Mode: sie „verlodert“. Um Wiens Niedergang aufzuhalten, werden die Juden drei Jahre nach der Ausweisung zurückgeholt. Der erste Jude wird vom Wiener Bürgermeister auf dem Balkon des Rathauses mit den Worten begrüßt. „Mein lieber Jude!——“

Hugo Bettauer hat seine Kolportage-Geschichte als „Roman von Übermorgen“ bezeichnet. Die Orbanisierung Österreichs von heute konnte er natürlich nicht vorhersehen. Das „Morgen“, das von heute aus gesehen das „Gestern“ ist, hat er nicht erlebt. Hugo Bettauer, der zu seiner Zeit ein vielgelesener, aufgeklärter und aufklärerischer Autor war, wurde am 10. März 1925 nach einer wochenlangen Medienkampagne in der Redaktion seiner Wochenzeitung „Er und Sie“ von einem Nazi mit sechs Schüssen schwer verletzt. Er starb am 26. März 1925 quasi als Opfer seines Romans.

Lothar Pollähne



Der Roman „Stadt ohne Juden“ ist 2013 zum bislang letzten Mal aufgelegt worden. Nach der „Verloderungs-Wahl in Österreich wäre eine Neu-Auflage geboten, auch als Warnung vor deutschen „Nachloderern“. Zurzeit bleibt nur die Suche im Antiquariat.

36. Osterfeuer der SPD Südstadt-Bult