Anna Berlit-Schwigon ehrt Hannovers ersten sozialdemokratischen Oberbürgermeister Robert Leinert mit einer wegweisenden Biographie.

Von Lothar Pollähne

In Hannover führt die Spinnereistraße aus der Calenberger Neustadt in den Stadtbezirk Linden. Den größeren Teil dieser Straße bildet eine Brücke über den Leine-Zufluss Ihme. Das einzig nennenswerte an diesem Bauwerk ist die nach schneereichen Wintern gelegentlich auftretende Gefährdung durch Hochwasser. Seit dem Jahr 1963 ist die Ihmebrücke in gnadenloser Einfaltspinselei nach Robert Leinert benannt. Die niedersächsische Landeshauptstadt ehrt auf diese absonderliche Weise einen ihrer größten Söhne: den ersten sozialdemokratischen Oberbürgermeister Hannovers.

Wohlwollend betrachtet ließe sich sagen: Wie schön, dass sich in Hannover überhaupt jemand an diesen Politiker erinnert hat, um ihn mit der obskuren Ehrung dem Vergessen zu entreißen. Das Ganze ist ein ausgesprochenes Ärgernis, denn Robert Leinert war über Hannover hinaus einer der wirklich wichtigen Sozialdemokraten der Weimarer Republik. Dennoch findet sein Name in sozialdemokratischen Standardwerken wie der „Kleinen Geschichte der SPD“ keine Erwähnung.

Lediglich die „Chronik der deutschen Sozialdemokratie“ von 1963 berücksichtigt Robert Leinert: Im Juni 1908 als einen von sieben sozialdemokratischen Abgeordneten im Preußischen Landtag und 1918 als Vorsitzenden der „Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte“, der vom 16. bis 20. Dezember in Berlin tagte. Da war er bereits seit einem Monat Oberbürgermeister Hannovers und damit der erste Sozialdemokrat an der Spitze einer deutschen Großstadt.

Warum Robert Leinert so sehr vernachlässigt worden ist und warum dies aus sozialdemokratischer Sicht eine haarsträubende Ungerechtigkeit ist, hat Anna Berlit-Schwigon in ihrer Doktorarbeit untersucht, die jetzt unter dem Titel „Robert Leinert - Ein Leben für die Demokratie - Sozialdemokratische Politik in der Weimarer Republik“ erschienen ist. Dabei spielt die Lebensgeschichte Leinerts aus guten Gründen eine nachgeordnete Rolle, denn sie ist so klassisch sozialdemokratisch wie viele vergleichbare Biographien.

Geboren am 16. Dezember 1873 in Striesen bei Dresden wächst Robert Leinert in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach Abschluss der achtjährigen Volksschule lernt Leinert das Malerhandwerk und geht auf „Wanderschaft“. In dieser Zeit findet er zur organisierten Arbeiterbewegung und wird 1891 Mitglied der SPD. 1894 kommt Robert Leinert nach Hannover, die Stadt, die ihn und die er in den kommenden Jahrzehnten prägen wird. Zur Jahrhundertwende konzentriert sich Leinert ausschließlich auf die Parteiarbeit und wird, wie Anna Schwigon-Berlit darstellt, einer der ersten Berufspolitiker.

Leinert macht Partei-Karriere, wird Redakteur der lokalen Parteizeitung „Volkswille“ und baut diese in kurzer Zeit zu einem machtvollen Presseorgan aus. Das bringt ihn gelegentlich ins Gefängnis, da der wilhelminische Obrigkeitsstaat Nichtigkeiten sucht und findet, um die Sozialdemokratie und deren prominente Vertreter öffentlichkeitswirksam abzustrafen. Solches allerdings nutzt der SPD mehr, als das es ihr schadet, und die SPD nutzt die Umstände, um bereits vor dem 1. Weltkrieg die Grundlagen für das sozialdemokratische Hannover zu legen.

1908 zieht Robert Leinert für die damals noch eigenständige Industriestadt Linden direkt in das Preußische Abgeordnetenhaus ein und verteidigt sein Mandat bis zum Ende des Kaiserreichs. Danach wird er Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung und ab 1921 Mitglied des neugebildeten Landtages. Zeitweise wird Leinert als preußischer Ministerpräsident gehandelt. Das wird er zwar wegen seiner vielfachen, sich häufig überschneidenden Aufgaben nicht, aber von 1921 bis 1924 wählt ihn die überwältigende Mehrheit des Abgeordneten zu ihrem Präsidenten.

Dass Robert Leinert am 13. November 1918 vom mehrheitlich konservativen Bürgervorsteherkollegium einstimmig zum Oberbürgermeister gewählt wird, verdankt er der Feigheit seines Vorgängers Heinrich Tramm und seinem Verhandlungsgeschick als Vorsteher des Arbeiter- und Soldatenrates. Tramm hatte angesichts der anrückenden revolutionären Marinesoldaten am 6. November den Dienst quittiert und hielt sich versteckt, was ihm seine konservativen Kollegen übelnahmen.

In den Verhandlungen mit den Bürgervorsteherkollegium erreicht der Arbeiter- und Soldatenrat, dass das Stadtoberhaupt kein Jurist mehr sein muss, dass die Bedingung, zwei Drittel der Bürgervorsteher müssten Hauseigentümer sein, entfällt und dass die Zahl der Bürgervorsteher auf 48 erhöht wird. Robert Leinert, den Anna Berlit-Schwigon zu Recht als „kompromissorientierten rechten Sozialdemokraten“ charakterisiert, befindet sich im Einklang mit dem Parteivorstand und sucht die Kooperation mit den bürgerlichen Eliten. Allerdings vertritt er im Gegensatz zu seinem Vorgänger das Motto „Des Volkes Wille ist das höchste Gesetz“.

Damit ergibt sich ein Dilemma, mit dem es Leinert in seinen Amtsjahren dauerhaft zu tun haben wird: Sein Leitsatz ist einerseits als Absage an die „Diktatur des Proletariats“ zu verstehen und andererseits die strikte Ablehnung der obrigkeitsstaatlich, ständischen Demokratieauffassung seiner konservativen Vorgänger. Plastisch und minutiöse arbeitet Anna Berlit-Schwigon heraus, wie Robert Leinert zwischen den bürgerlich-konservativen und kommunistischen Interessen „zerrieben“ wird. Drei Namen stehen beispielhaft für das Konfliktfeld, in dem sich Leinert bewegen muss: Iwan Katz, Heinrich Tramm und Arthur Menge.

Iwan Katz, der von der SPD kommend über die USPD zur KPD gelangte, nimmt Robert Leinert dessen Tätigkeit als Vorsitzender der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte übel,bezichtigt ihn als „Verräter“ an der sozialistischen Revolution und versteigt sich im März 1920 in einer Sitzung des Bürgervorsteherkollegiums zur hasserfüllten Behauptung, die SPD-Regierung sei eine „Diktatur, die die schlimmste war, die das Proletariat je über sich ergehen lassen musste“. Der persönliche Hass auf Leinert führt Iwan Katz zum wiederholten Verrat an der hannöverschen Arbeiterschaft, indem er mit den Konservativen gegen sozialdemokratische Vorhaben angeht.

Heinrich Tramm und sein politischer Ziehsohn Arthur Menge gehören zum vordemokratisch monarchistischen Block, den vor allem die starke anti-preußische Haltung eint. Das militaristische Bindeglied dieses Blocks heißt Paul von Hindenburg, dem die Stadt Hannover auf Betreiben Heinrich Tramms kurz vor der Novemberrevolution eine repräsentative Villa als kostenfreien Altersruhesitz überlässt. Daran kann Robert Leinert nichts ändern, aber er straft den militaristischen Mümmelgreis mit offensiver Nichtachtung. Den 75. Geburtstag des hannöverschen Ehrenbürgers Hindenburg „übersieht“ Leinert einfach. Dies macht ihn für den „Bürgerblock“ zum Hassobjekt.

Trotz der Anfeindungen von extrem links und rechts und einer bisweilen gehässigen Berichterstattung in den bürgerlich-konservativen Zeitungen gelingt es Robert Leinert in seinen knapp fünf Amtsjahren, die Stadt Hannover gründlich zu modernisieren. So setzt er gegen den Widerstand des konservativen Blocks den längst überfälligen Zusammenschluss der Städte Hannover und Linden durch. Nach zweijährigen, zähen Verhandlungen mit dem preußischen Staat, die Robert Leinert noch im Auftrag des Arbeiter- und Soldatenrates begonnen hatte, übernimmt die Stadt Hannover das ehemaligen Königliche Hoftheater und in diesem Zusammenhang die Herrenhäuser Gärten und das Leineschloss. Leinert verspricht sich von dieser Maßnahme, wie Anna Berlit-Schwigon ausführt „eine bessere Integration bisher Benachteiligter“.

In einem kurzen, aber gewichtigen Kapitel beleuchtet Anna Berlit-Schwigon Robert Leinerts Verdienste um die Demokratisierung der Verwaltung und die Außendarstellung der Stadt Hannover. Gegen den Widerstand der an Hinterzimmer gewöhnten Konservativen setzt er die Einrichtung eines Pressebüros durch und betreibt die Gründung eines städtischen Werbebüros, um bei der Tourismusförderung nicht auf die Privatwirtschaft angewiesen zu sein. Maßgebend für Leinert ist die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und der Abschied von monarchistischen Relikten. So lässt er im Rathaus die überlebensgroßen Statuen von Wilhelm I. und Wilhelm II. entfernen und setzt damit ein deutliches republikanisches Zeichen.

Als sich nach den Kommunalwahlen vom 2. Mai 1924 die Zahl der sozialdemokratischen Ratsmitglieder nahezu halbiert, wird Leinerts Lage als Oberbürgermeister nahezu aussichtslos. An den Gremien der Partei vorbei handelt er mit der nunmehr konservativen Ratsmehrheit einen Abfindungsvertrag aus, was zur Freude der bürgerlichen Presse von den Abteilungsleitern der SPD scharf missbilligt wird . Vollkommen ausgebrannt erleidet Robert Leinert am 18. September 1924 einen Nervenzusammenbruch und begibt zur Behandlung in ein Sanatorium in Kassel.

Noch bevor er zum 1. Januar 1925 in den Ruhestand versetzt wird, zeichnen konservative Politiker und die ihnen zugeneigten Medien ein abscheuliches Bild von Robert Leinert, das die alsbald anbrechende Terrorzeit ahnen lässt. Leinert wird „als ein unfähiger, sich selbst überschätzender Diktator, geprägt von blindem Hass auf das Unternehmertum mit verantwortungslosem Hang zur Lüge und Kriminalität“ gebrandmarkt. Leinerts Nachfolger Arthur Menge, der eine der ersten Koalitionen mit Nazis auf kommunaler Ebene eingeht, bleibt auch nach der Machtübertragung als Hindenburg-Freund im Amt. 1933 sorgt er mit seinen Gesinnungsfreunden dafür, das Robert Leinert die ihm zustehende Pension ersatzlos gestrichen wird.

Die sozialdemokratisch geführte Stadt Hannover hat den rechtsreaktionären Steigbügelhalter Menge 1977 mit der Benennung des Maschsee-Nordufers geehrt. Bereits seit 1917 ist der Rathausvorplatz nach Heinrich Tramm benannt. Das bittere Resümee von Anna Berlit-Schwigon ist eine Aufforderung an die Stadt Hannover, ihrem großen Oberbürgermeister Robert Leinert endlich den gebührenden Respekt zu erweisen: Er war „nach 1945 nahezu vergessen und schien nur noch eine unschöne Fußnote der Stadtgeschichte zu sein. Leinert repräsentiert eine Gruppe von Sozialdemokraten der Weimarer Republik, denen Peter Lösche und Franz Walter 1988 einen Sammelband mit siebzehn Beispielbiographien unter dem engagierten Titel „Vor dem Vergessen bewahren“ widmeten. Robert Leinert fand trotz seiner unbestrittenen Biographiewürdigkeit keinen Platz in diesem Band, und doch gilt das Motto auch für ihn. Die Verfasserin hofft, mit ihrer Studie diese Lücke geschlossen zu haben.“

Das hat Anna Berlit-Schwigon in der Tat, und deshalb ist diesem gut recherchierten und sehr lesbar geschriebenen Buch die gebührende Aufmerksamkeit, vor allem innerhalb der SPD zu wünschen. Die Stadt Hannover wäre gut beraten, endlich angemessen mit Robert Leinert und seinen Verdiensten um die niedersächsische Metropole umzugehen.


Anna Berlit-Schwigon, Robert Leinert - Ein Leben für die Demokratie - Sozialdemokratische Politik in der Weimarer Republik, Hahnsche Verlagsbuchhandlung Hannover 2012, 244 S., € 19,90


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